Anregungen und Beispiele
Vorgehen beim Verdacht auf sexualisierte Gewalt
Die Intervention beim Verdacht auf sexualisierte Gewalt beinhaltet die folgenden Phasen, die im Schaubild farbig unterschieden werden:
- Informationen sammeln und dokumentieren
- Schulleitung informieren und Verdacht abklären
- Einschätzen: Besteht eine akute und massive Gefährdungssituation?
- entsprechende Handlungsschritte in die Wege leiten
- Weiteren Verlauf im Team beobachten
- Alle Informationen und Gespräche dokumentieren
Auf die Hinweise an die Schulen zum Verhalten bei strafrechtlich relevanten Vorkommnissen und zur Beteiligung des Jugendamtes“ (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 23. September 2014, Az. II.1-5S4630-6a.108 925), wird hingewiesen.
Schaubild
Downloadmöglichkeit des Schaubilds.
Quelle: Schaubild nach einer Anregung von: Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (2023). Handlungsleitfaden zum Umgang mit sexueller Gewalt in Schule. Kronshagen, S. 48.
Wichtige Hinweise zum Schaubild
Einbeziehen von Polizei und Jugendamt bei Verdacht strafbarer Handlungen oder Kindeswohlgefährdung
Die hier dargestellte Interventionskette unterstützt die Schulleitung und an der Schule Verantwortliche bei der Klärung des Sachverhalts. Werden konkrete Tatsachen bekannt, die auf eine Straftat hindeuten und/oder werden Tatsachen bekannt, die darauf schließen lassen, dass eine akute Gefährdung Betroffener vorliegt, ist kurzfristig zu handeln: Die Erziehungsberechtigten, das Jugendamt bzw. die Strafverfolgungsbehörden sowie in gravierenden Fällen auch die Schulaufsicht sind zu informieren. Wurde der Übergriff durch eine Mitschülerin oder einen Mitschüler begangen, könnte eine Sicherungsmaßnahme nach Art. 87 BayEUG bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen im Sinne des Opferschutzes notwendig sein. Richtet sich der Verdacht gegen eine Lehrkraft oder eine andere erwachsene Person an der Schule, ist die zuständige dienstvorgesetzte Stelle/Personalstelle des Arbeitgebers zu informieren, die in schwerwiegenden Verdachtsfällen über ein Verbot der Führung der Dienstgeschäfte oder eine Freistellung von der Dienstleistungs- bzw. Arbeitspflicht entscheidet.
Durch eine alters- und situationsgerechte Aufklärung über die Notwendigkeit dieser Schritte soll nach Möglichkeit das Einverständnis der von der Gefährdung oder strafbaren Handlung betroffenen Person bzw. der Erziehungsberechtigten zum Einschalten der Polizei / des Jugendamts eingeholt werden.
Gleichzeitig ist abzuklären, ob die mit den Maßnahmen verbundene psychische Belastung der von der (Kindeswohl-)Gefährdung oder strafbaren Handlung betroffenen Person zu einer unmittelbaren Gefährdung (z.B. Suizidgefahr) führen könnte. In diesem Fall kann es gerechtfertigt sein, die Information der Erziehungsberechtigten und das Einschalten der Polizei bzw. des Jugendamts vorläufig zurückzustellen, vgl. Nr. 4.7 der Hinweise an die Schulen zum Verhalten bei strafrechtlich relevanten Vorkommnissen und zur Beteiligung des Jugendamtes. Die Gefahrensituation ist durch eine von der Schule unabhängige, fachlich qualifizierte Person (z.B. Schulpsychologin/Schulpsychologe) zu prüfen und festzustellen.
Hinweis: In Fällen, in denen zu befürchten ist, dass die von der etwaigen Tat betroffene Person aufgrund möglicher Abhängigkeitsverhältnisse zum Täter/zur Täterin diesen/diese informiert und so eine Vernichtung von Beweisen ermöglicht (Verdunkelungsgefahr), sind die entsprechenden Schritte besonders sorgfältig abzuwägen.
Wichtig bei der Abklärung des Verdachts: Gespräche vorbereiten und dokumentieren
Liegen nur Vermutungen vor, so ist es empfehlenswert, nach der Information der Schulleitung mit dem Schulpsychologen/der Schulpsychologin Kontakt aufzunehmen, der/die bei der weiteren Vorgehensweise unterstützen kann. Eventuelle Gespräche sind mit Bedacht zu führen, um Betroffene nicht zu retraumatisieren, den Ermittlungen durch die Polizei nicht vorzugreifen oder durch falsche Gerüchte den Ruf einer Person zu schädigen. Gespräche mit eventuell Betroffenen haben das Ziel, grundsätzlich zu signalisieren, dass die Schülerin bzw. der Schüler hier sicher ist, dass ihr bzw. ihm geglaubt wird und dass sie oder er in der Schule Unterstützung finden kann. Ein Gespräch soll keinen ermittelnden Charakter einnehmen. Keinesfalls dürfen detaillierte Erzählungen eingefordert oder Suggestivfragen gestellt werden. Eine entsprechende Ermittlung erfolgt ausschließlich durch die Polizei. Andernfalls könnte sich ein Folgenachteil für Betroffene ergeben, wenn Zeugenaussagen nicht mehr verwertbar sind.
Gespräche mit mutmaßlich von sexualisierter Gewalt betroffenen Schülerinnen und Schülern erfordern ebenso wie Gespräche mit den Erziehungsberechtigten unbedingt ein passendes Setting und inhaltliche Vorbereitung. Wie alle anderen Maßnahmen im Verdachtsfall sind alle Gespräche zu dokumentieren. Praxisnahe Leitfäden für diese Gespräche und einen Dokumentationsbogen finden Sie im Materialteil. Wie oben bereits erwähnt, ist es in allen Fällen zu empfehlen, im Vorfeld eines Gesprächs mit Betroffenen mit der Schulpsychologin / dem Schulpsychologen Kontakt aufzunehmen.
Dokumentation aller Maßnahmen
Eine gute Dokumentation ist vollständig, identifizierbar und beinhaltet den vollständigen Namen der verfassenden Person, Datum und Uhrzeit sowie eine Unterschrift. Außerdem sollte die Dokumentation übersichtlich, strukturiert und nachvollziehbar sein. Auch Fotos, Skizzen oder Notizen müssen mit Datum, Uhrzeit und Unterschrift versehen sein. E-Mails müssen ausgedruckt und unterschrieben sein. Es empfiehlt sich, einen Dokumentationsbogen als Vorlage bereitzuhalten. Eine beispielhafte Vorlage findet sich im Materialteil.
Die Schulleitung und die ggf. beteiligten Lehrkräfte tragen während eines aktuellen Vorfalls Sorge für eine geeignete, vertrauliche Aufbewahrung der Dokumentation. Je nach Charakter der Unterlagen und Verlauf des Vorfalls gelten die Regelungen nach §37 BaySchO sowie die Durchführungshinweise zum Umgang mit Schülerunterlagen (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst); auf § 37 Satz 3 BaySchO wird besonders hingewiesen.
Pädagogische bzw. disziplinarische Maßnahmen bei sexualisierten Grenzverletzungen
Grenzverletzendes Verhalten, wie z.B. sexualisierte Belästigungen oder Beleidigungen sind auch dann als sexualisierte Gewalt in den Blick zu nehmen, wenn sie nicht strafrechtlich relevant sind oder eine akute Gefährdung hervorrufen. Hier sind passende pädagogische Interventionen und gegebenenfalls auch Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. Das alltägliche Handeln der einzelnen Lehrkraft wird hierbei ganz maßgeblich unterstützt, wenn im Kollegium Absprachen zum entsprechenden pädagogischen Wirken getroffen wurden.
Tipps für die Praxis
Die Liste der Notfallkontakte und Netzwerkpartner sollte in der Schule zusammen mit dem Schaubild zur Intervention und mit sämtlichen Checklisten dem Kollegium gut zugänglich sein, um in der Praxis schnell handlungsfähig zu sein. Diese Dateien ergänzen bereits bestehende Kriseninterventionspläne der Schule und sollten deshalb am gleichen Ort analog und / oder digital aufbewahrt werden.
Praxisnahe, das Thema vertiefende Leitfäden zur Vorbereitung und Durchführung von Gesprächen mit eventuell betroffenen Schülerinnen und Schülern finden sich im Kapitel „3.4 Mit Schülerinnen und Schülern über einen Verdacht auf sexuelle Gewalt sprechen“, in: Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (2023). Handlungsleitfaden zum Umgang mit sexueller Gewalt in Schule. S. 28ff. und S. 65ff., abzurufen unter https://fachportal.lernnetz.de/sh/themen/zentrum-fuer-praevention/sexuelle-gewalt-schutzkonzepte.html. Auf die Erfordernis der besonderen Sensibilität des Vorgehens sei hier nochmals hingewiesen. Ein speziell auf die Gegebenheiten in Bayern abgestimmtes Material ist in Vorbereitung.
Vorgehen bei ungerechtfertigtem Verdacht
Es besteht immer die Möglichkeit, dass sich der Verdacht der sexualisierten Gewalt nach sorgfältiger Prüfung nicht oder nur teilweise erhärtet. In diesem Fall entsteht das dringende Interesse der Rehabilitation der zu Unrecht in Verdacht geratenen Person.
Alle Schritte mit der zu Unrecht verdächtigten Person absprechen
Es ist dabei angeraten, alle Schritte und Maßnahmen zum Zweck der Rehabilitation mit der in Verdacht geratenen Person abzustimmen. Denn die Auffassung, ob eine Rehabilitationsmaßnahme ihrem Interesse tatsächlich dient oder die Situation vielleicht sogar verschlimmert, z.B. weil weitere Personen erst durch die Rehabilitationsmaßnahme überhaupt auf den früheren Verdacht aufmerksam werden, kann sehr unterschiedlich sein. Die Wirkung von Informationen lässt sich nicht mit letzter Sicherheit prognostizieren.
Alle Schritte der Rehabilitation müssen mit derselben Dringlichkeit und Genauigkeit durchgeführt werden wie die Verdachtsabklärung. Deshalb sind alle an der Verdachtsabklärung Beteiligten über das Rehabilitierungsverfahren zu informieren.
Ziel: Wiederherstellen der Vertrauensbasis und der Arbeitsfähigkeit
Ziel ist die Wiederherstellung der Vertrauensbasis und der Arbeitsfähigkeit aller Betroffenen. Der Datenschutz muss eingehalten werden.
Folgende Schritte sind denkbar:
- Beendigung bzw. Rücknahme aller ergriffenen Maßnahmen
- Nachbericht an alle einbezogenen Stellen (z.B. Schulaufsicht, Jugendamt, Strafverfolgungsbehörden)
- Klarstellende Informationen durch die Schulleitung, die in Ausmaß und Zielgruppe (Betroffener oder Betroffene, Kollegium, Schülerinnen und Schüler, Erziehungsberechtigte) den erhobenen Fehlinformationen entsprechen
- Gegebenenfalls Richtigstellung in den Medien in Rücksprache mit der Schulaufsicht
- Bereitstellen von Supervision oder schulinterner, schulübergreifender und externer Unterstützungsangebote (z.B. durch die Schulpsychologie, Schulberatungsstelle, KIBBS, regionale Fachstellen)
- Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung des schulischen Schutzkonzepts und Kommunikation des Schutzkonzepts innerhalb der Schulgemeinschaft
Quellen:
Landeshauptstadt München. Referat für Bildung und Sport (2017): Handbuch Umgang mit sexueller Gewalt in Kindertageseinrichtungen, S. 105 f.
Handreichung zum Umgang mit sexuellen Übergriffen (2020) des hessischen Kultusministeriums, S. 19, abzurufen unter https://kultusministerium.hessen.de/infomaterial/Handreichung-zum-Umgang-mit-sexuellen-Uebergriffen-im-schulischen-Kontext